Emblembild des Eurocode 1990 "Grundlagen der Standsicherheit"

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Die zweite Generation der Eurocodes

Mehr Nutzerfreundlichkeit, eine stärkere Berücksichtigung des Bestands, klimaresilientes Bauen: was bringt die neue Generation der Eurocodes? Im Frühjahr 2023 stellte das DIBt zusammen mit seinen Partnern die Weiterentwicklung der Eurocode-Normen in einer internationalen Hybridkonferenz der Fachöffentlichkeit vor.

Warum eine zweite Generation der Eurocodes?

Die Eurocode-Normenreihe bildet seit den 1990er Jahren das europaweite Referenzwerk für die Bemessung und Konstruktion im Bauwesen. Schätzungen zufolge nutzen rund 500.000 Ingenieurinnen und Ingenieure weltweit die Eurocodes für ihre tägliche Arbeit. In vielen Ländern, einschließlich Deutschland, sind die Normen der Eurocode-Reihe dabei auch bauaufsichtlich relevant und damit Teil des gesetzlichen Regelungsrahmens.

Das Bauen ist in den letzten 30 Jahren jedoch nicht stehen geblieben. Technischer Fortschritt, neue Materialien und Konstruktionen sowie veränderte bauaufsichtliche Anforderungen, etwa an das klimaangepasste Bauen, machten und machen eine umfassende Überarbeitung und Erweiterung der Normenreihe erforderlich. So wurde 2012 mit der Arbeit an der "zweiten Generation" der Eurocodes begonnen, die sich jetzt der Zielgerade nähert.

Um die Fachöffentlichkeit auf die bevorstehenden Änderungen vorzubereiten, gestaltete das DIBt gemeinsam mit den Vorsitzenden des CEN/TC 250 und seiner Unterausschüsse im Mai 2023 eine Hybridkonferenz vor internationalem Publikum. 

Als Veranstaltungspartner traten die Europäischen Kommission, hier speziell deren Joint Research Centre (JRC), das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauen (BMWSB), das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) sowie die Initiative Praxisgerechte Regelwerke im Bauwesen e.V. (PRB) auf. Die Konferenz brachte über 1500 Fachleute aus 66 Ländern zusammen. Im Mittelpunkt standen die Neuerungen, die die zweite Generation der Eurocodes für Ingenieurinnen und Ingenieure bereithält. Für die technischen Details sei hier auf die Videomitschnitte und Präsentationen der Konferenz verwiesen. Die großen Linien möchten wir in diesem Artikel aber nochmals vorstellen. 

Eurocode-Veranstaltung: Steve Denton, Vorsitzender des CEN/TC 250 "Structural Eurocodes", stellt die neue Generation der Eurocode-Normen vor.

Steve Denton, langjähriger Vorsitzender des CEN/TC 250 "Structural Eurocodes", stellt die neue Generation der Eurocode-Normen, die sogenannte Second Generation, im Überblick vor.

Eurocode-Veranstaltung: Alberto Mandara referiert vor Live-Publikum

Alberto Mandara, Vorsitzender des CEN/TC 250/SC 9 "Bemessung und Konstruktion von Aluminiumtragwerken" bei seinem Vortrag

Eurocode-Veranstaltung: Die Referenten beantworten Fragen an einem langen Stehtisch

Die Vorsitzenden der CEN/TC 250-Unterausschüsse für Betonbau, Betonverbundbau und Mauerwerksbau beantworten die Fragen des Live- und Online-Publikums.

Eurocode-Veranstaltung: Dipl.-Ing. Gerhard Breitschaft bei seinem Schlusswort

Schlussworte des Hausherrn und Vizevorsitzenden des CEN/TC 250, DIBt-Präsident Gerhard Breitschaft

Eurocode-Veranstaltung: Gruppenbild aller Referentinnen, Referenten und des Moderatoren-Teams

Die Referentinnen und Referenten der Veranstaltung und das Moderationsteam beim Fototermin

Verbesserte Nutzerfreundlichkeit und praxisorientierte Anpassungen

Ein zentrales Ziel der Überarbeitung war es, die Eurocode-Normen nutzerfreundlicher zu gestalten, etwa durch die Reduktion von Redundanzen und die Streichung von weniger praxisrelevanten Inhalten. Gleichzeitig sollte die Struktur der Normen verbessert werden, um sie leichter verständlich und für den Arbeitsalltag der Fachleute besser zugänglich zu machen. 

Normungsexperten betonen zudem immer wieder, dass eine Evolution, keine Revolution angestrebt war. Wer mit der ersten Generation vertraut ist, sollte sich in der neuen Normenreihe schnell zurechtfinden. Die Kontinuität zu wahren und gleichzeitig Anpassungen vorzunehmen, die den heutigen Anforderungen gerecht werden, war somit ein wichtiges Anliegen aller Beteiligten.

Obgleich die Praxistauglichkeit und Anwenderfreundlichkeit der Normen also von Anfang an im Fokus stand, ist die zweite Generation im Ergebnis sehr umfangreich geworden. Für die Implementierung in Rechenprogramme, die die tägliche Arbeit der Tragwerksplanenden bestimmen, ist das kein großes Problem. Davon unbenommen bleibt es bei dem Wunsch aus der Praxis, nach kürzeren, verständlicheren und besser handhabbaren Bemessungsregeln, anhand derer die Ergebnisse der Rechenprogramme doch zumindest ansatzweise nachgeprüft werden können. 

Deswegen wird inzwischen für einige Eurocodes an sog. Easycodes gearbeitet. Das sollen verkürzte Fassungen der sehr umfassenden Eurocodes werden, mit denen ein Großteil der alltäglichen Bauaufgaben erledigt werden kann.

Neue Anforderungen und Anpassung an den Stand der Technik

Die zweite Generation der Eurocodes enthält zahlreiche Anpassungen an den Stand der Technik. Es wurden neue Materialien, Technologien, Bemessungsmethoden und Anforderungen aufgenommen. 

Neu in die Normenreihe aufgenommen wurden Bauteile aus Glas. Deren Bemessung und Konstruktion wird im neuen „Eurocodes 10“ umfassend und auf dem Stand der Technik behandelt. In vielen Eurocodes berücksichtigt werden zudem künftige "grünere" Produktvarianten mit teilweise veränderten Eigenschaften.

Detailaufnahme: Glas im Bauwesen

Der neue Eurocode 10 adressiert Glas im Bauwesen.

Zu beobachten ist auch eine Weiterentwicklung der Verfahren und Bemessungsmethoden. Im Stahlbau kommen verstärkt numerische Methoden, etwa die Finite-Elemente-Methode zum Einsatz.

Quer durch alle Eurocodes, angefangen bei EN 1990 "Grundlagen der Tragwerksplanung", zieht sich auch eine stärkere Differenzierung zwischen Bestandsbauten und Neubauten. Intendiert ist eine Stärkung des Bestandserhalts, der auch aus ökologischen Gründen – Stichwort "graue Energie" – Sinn macht. Die Abwägung und Feinjustierung zwischen den unterschiedlichen bauaufsichtlichen Schutz- und Sicherheitszielen liegt hier über die Nationalen Anhänge in der Verantwortung der Mitgliedstaaten.

Technisch ebenfalls in der neuen Generation der Eurocodes angelegt ist die Berücksichtigung von veränderten Einwirkungen durch den Klimawandel, etwa durch Extremwetterereignisse. Vor diesem Hintergrund kann auch die stärkere Verknüpfung von Versagenswahrscheinlichkeit und Schadensfolge gelesen werden, die mit der zweiten Generation der Eurocodes über die "Consequence classes" angelegt ist und ebenfalls von den Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Weise mit Leben gefüllt werden kann.

Konsensprinzip

Die zweite Generation der Eurocodes ist das Ergebnis jahrelanger intensiver Zusammenarbeit von mehreren hundert Expertinnen und Experten aus ganz Europa. Steve Denton, Vorsitzender des CEN/TC 250, hob in diesem Zusammenhang hervor, dass die Eurocodes ein europäisches Gemeinschafts­werk sind, dass das umfassende ingenieurtechnische Wissen der EU vereinen und für die breite Fachöffentlichkeit zugänglich machen.

Ausblick: Umsetzung in der Praxis

Von Seiten des Europäischen Normungskomitees CEN sollen bis 30. September 2027 alle Eurocodes der zweiten Generation einschließlich der Nationalen Anhänge fertiggestellt sein und für die Umsetzung zur Verfügung stehen. Einzelne in sich geschlossene Pakete sind es bereits, namentlich im Bereich des Eurocodes 3 für den Stahlbau. Nach aktuellem Stand wird das DIBt bereits 2025 die bauaufsichtliche Inbezugnahme der ersten Normen der zweiten Generation in Deutschland vorschlagen. 

Hilfreich werden dabei die Kontinuitätslinien zur ersten Generation der Eurocodes sein. Dennoch gibt es in allen Eurocodes für die Fachwelt wichtige Weiterentwicklungen. Auf der Konferenz des DIBt stellten die Vorsitzenden der CEN/TC 250-Arbeitsgruppen die aus ihrer Sicht wichtigsten Neuerungen überblickshaft vor. Themenspezifische Konferenzen und Weiterbildungsangebote vielfältiger Anbieter müssen folgen, um Planende und Ausführende in ihrer praktischen Tätigkeit zu unterstützen. Dieser Dialog ist bereits der nächste Schritt zur Fortschreibung des bautechnischen Regelwerks. Denn als ein Ergebnis des Mammutprojekts "zweite Generation der Eurocode" sollen die Bemessungs- und Konstruktionsnormen der Eurocode-Serie künftig kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Für das DIBt hat sich das Weitergeben von Wissen rund um die Eurocodes seit der Konferenz intensiviert. Nach der Veranstaltung erreichten uns zahlreiche Anfragen von Interessierten aus aller Welt. Eine breite Anwendung der Eurocodes kann dabei Handelsbeziehungen stärken und Brücken bauen – in jedem Sinne des Wortes.

Eurocode-Konferenz: Steve Denton und Gerhard Breitschaft beim gemeinsamen Schlusswort

Bei ihren Schlussworten zu dem Projekt "zweite Generation Eurocodes" stellen CEN/TC-Vorsitzender Steve Denton und DIBt-Präsident Gerhard Breitschaft insbesondere folgende Punkte heraus: (1) Die immense kooperative Leistung von hunderten Expertinnen und Experten in Europa; (2) den besonderen Fokus auf die Praxistauglichkeit, die als Messlatte an die zweite Generation der Eurocodes angelegt wird; und (3) die Berücksichtigung künftiger Regelungs- und Handlungsbedarfe, etwa im Bereich der Klimaanpassung, der Nachhaltigkeit und des Ressourcenschutzes.